Hurra, Hurra, wir leben noch!
Welcher Corona-Tag ist heute eigentlich? 96? 123? 799? Wer weiß. Dieser Frühling hat sich ewig angefühlt - wann war nochmal Februar? Vor drei Jahren?
Wenn ich morgens aufwache, habe ich in diesen Tagen nur eine sehr ungefähre Ahnung, welcher Wochentag ist. Und welches Datum? Der 69. März vielleicht? Keine Ahnung.
Seit Anfang April arbeite ich im Home Office, und auch wenn das Damoklesschwert der Kurzarbeit über mir schwebt (hallo, Lufthanseatin hier), hatten die Corona-Maßnahmen doch bisher erstaunlich positive Auswirkungen für mich. Ich kann gar nicht in Worte fassen, wie sehr das Home Office meine Lebensqualität verbessert hat. Keine Pendelei mit vollen öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit bedeutet nicht nur Zeitersparnis, sondern auch keine unerwünschten Kontakte zu anderen Menschen. Dito das arbeiten zu Hause im Wohnzimmer statt in der Station. Für eine introvertierte Replikantin wie mich paradiesische Zustände.
Mein Stresslevel ist in ungekannte Tiefen gesunken, schon nach einer Woche Home Office spürte ich plötzlich eine enorme innere Ruhe. Ich schlafe gut und ausreichend und springe morgens um sechs gut gelaunt aus dem Bett. Okay, das Letzte war gelogen. Ich rolle mich aus dem Bett wie eine verschlafene Katze mit verwuscheltem Fell und schlurfe zerknautscht zur Kaffeemaschine. Aber um sechs!
Ich koche in diesem Quarantäne-Leben auch täglich selbst und habe nicht mehr das Bedürfnis, gegen den Alltagsstress Süßkram und Berge von Pasta zu futtern. Wer weiß, ob ich es ohne die Corona-Maßnahmen geschafft hätte, in den letzten drei Monaten unglaubliche zehn Kilo abzunehmen. Zehn! Ich habe mich lange nicht mehr so gut in meinem Körper gefühlt. Danke, Corona. Allerdings brauche ich jetzt so langsam neue Klamotten. Sogar mein Badeanzug ist zu groß geworden, wie ich feststellen musste, als ich zum ersten Mal seit Mitte März schwimmen war. Im Weissen See, wild (Achtung, Schwanfamilie kreuzt und hat Vorfahrt!), matschig und sehr kalt, aber großartig. Ich hatte das Schwimmen sehr vermisst.
Die durch den Wegfall des Arbeitswegs gewonnene Zeit nutze ich vor allem, um mehr Sport zu treiben. Ich gehe öfter laufen als je zuvor und fühle mich großartig. Kürzlich lief ich auf meiner Runde an einem Haus vorbei, in dem jemand die Beatles hörte und sang spontan mit: “She wakes up, she makes up, she doesn’t feel she has to hurry, she no longer needs you.” Ein perfekter Moment; ich habe das so richtig gefühlt.
She no longer needs you. Vor zwei Wochen habe ich ein Paket gepackt und dem Co-Piloten seine Sachen geschickt, die noch in meiner Wohnung waren. Ein Buch, das er mir geliehen hatte, eines seiner Hemden, das noch hier hing, dies und das. Ich bin eine treue Seele; ich lasse selten Menschen in mein Leben, und umso länger brauche ich, um über jemanden hinweg zu kommen. Vielleicht ist es auch umgekehrt und ich lasse so selten Menschen in mein Leben, weil ich weiß, wie lange ich brauche, um über jemanden hinweg zu kommen.
Und so sehr ich diesen einsamen Corona-Frühling genossen habe - so langsam, ein ganz klein wenig vermisse ich vielleicht sogar menschliche Kontakte, die über den Austausch mit Supermarktkassiererinnen hinausgehen. Ich den letzten drei Monaten habe ich mich nur gelegentlich mit einem einzigen Bekannten getroffen. Die Restaurants und Bars sind wieder geöffnet, aber ich weiß noch nicht so recht, was davon zu halten ist. Gerade in dieser Woche steigen die Infektionszahlen in Berlin ja auch wieder an. Trotzdem … Ein Date, irgendwann mal wieder. Das wär's schon.